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A wie...

A wie...

 A wie…

 

Anfang
meiner Fragen und Gedanken in diesem Post ist mein Empfinden, als ich dieses Jahr das erste Mal an einer Demonstration am 5. Mai, dem europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, teilgenommen habe1.
Diese Demo war von Aktivist*innen mit Behinderung organisiert, nicht wie ein wesentlich größeres Event zwei Tage vorher von den Sozialverbänden und Trägern der Behindertenhilfe (Werkstätten, Wohneinrichtungen etc.).

 

Allein

Ich habe mich selten so allein gefühlt und geschämt wie auf dieser Demonstration. Gekommen waren etwa 200 Leute. Es waren ganz überwiegend Menschen mit sichtbaren Behinderungen dort (z.B. im Rollstuhl oder mit weißem Stock). Ich traf mehrere Menschen aus inklusiven Projekten, für die ich fotografiert habe. Aber ich sah außer mir so gut wie keine Menschen ohne sichtbare Behinderung, die nicht als enge Angehörige, persönliche Freunde oder als Assistenz dabei waren. Das hat sich sehr ungut angefühlt.

 

Ally

Wo sind wir nicht-behinderten Menschen? Warum solidarisieren wir uns nicht als Unterstützende und Verbündete von Menschen mit Behinderung, also als sogenannte Allies?2
Warum gehen wir auf Demos für die Rechte von Geflüchteten oder unterstützen die queere Community, ohne selbst queer zu sein, aber kriegen – so wie ich in den letzten Jahrzehnten – nicht mal mit, dass es Demos gibt, auf denen wir Menschen mit Behinderung bei ihren Forderungen unterstützen können?
Warum ist es an mir „vorbeigerauscht“, warum habe ich mich nicht interessiert, nicht damit befasst, warum habe ich es bei der Lektüre von Zeitungsartikeln belassen?

 

Übrigens: Aktivist*innen mit Behinderungen sind auch Allies.3

 

Ausschluss

Menschen mit Behinderung kommen in meinem Privatleben fast nicht vor. Ich altere - mit den einhergehenden Problemen wie Arthrose etc. Aber noch kann ich zu meiner Zahnarztpraxis die Treppe rauf oder im Proberaum die Treppe runter laufen – im Gegensatz zu Rollifahrenden.
Ich bewege mich permanent in nicht-barrierefreien Räumen, die Menschen mit Behinderung ausschließen. So entsteht Unsichtbarkeit und so werden Begegnungen systematisch verhindert.

 

Emotional produziert das bei mir einer Art „Entfremdungsgefühl“, was mich gleichzeitig auch von etwaiger Verantwortung entbindet. Was ich nicht sehe, ist gefühlt nicht da - und was ich nicht sehe an Gewalt und Unrecht, findet gefühlt auch nicht statt.4
Ich „erlebe“ etwas erst, wenn ich mich verbinde und in Bezug setzen kann/muss.

 

Ableismus

Ein sperriges Wort. Aber damit hat es alles auch zu tun. Ich weiß, dass Menschen im Rollstuhl zu extrem vielen Orten überhaupt keinen Zugang haben. Ich weiß, dass in Werkstätten für Menschen mit Behinderung meist nur stupide Tätigkeiten im „Angebot“ sind und für die Arbeit ein Taschengeld statt des geltenden Mindestlohns gezahlt wird. Ich weiß, dass es für Menschen mit Behinderung fast unmöglich ist, eigenen, barrierefreien Wohnraum zu finden. Ich würde nicht durch unpassierbare Zuwege an der Teilnahme vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden wollen. Und ich würde nicht zu einer monotonen Arbeit gezwungen sein wollen - und für weniger als den Mindestlohn zu arbeiten, käme für mich auch nicht in Frage. Und natürlich möchte ich in einer eigenen Wohnung am Wohnort meiner Wahl leben.

 

Dass ich all diese Widersprüche nicht als solche empfinde und sie problemlos aushalte, hat mit Ableismus zu tun. Ohne es zu wollen, ohne es zu merken, mache ich in meinem Denken Menschen mit Behinderung zu „anderen“. Und: Menschen als „andere“ zu definieren macht es möglich, ihnen straffrei und ohne schlechtes Gewissen Rechte zu verweigern.5

 

Artikel 1, 2, 3

Das Grundgesetz sagt, die Würde des Menschen ist unantastbar, jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Seit 2009 gilt in Deutschland auch die UN-Behindertenrechtskonvention - und wird ebenfalls nicht umgesetzt.6

Dennoch habe ich die systematische Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderung bis vor kurzem nicht als Menschenrechtsverletzung begriffen. Ich dachte an Amnesty International und das Einsperren von missliebigen Oppositionellen in fernen Ländern. Und nicht an das Aussperren von Menschen aus gesellschaftlicher Teilhabe – Arbeit, Freizeit, Gesundheit, Wohnen ...

 

AfD

Die AfD hält Inklusion für einen Irrweg einen Belastungsfaktor und will sie abschaffen.7

Der Bundeskanzler stellt die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung grundsätzlich in Frage.8

 

Rechte Ideologie behauptet immer, Menschen mit Behinderung seien das eigentliche Problem und betrachtet sie ausschließlich als defizitär und teuer.
Wozu es führen kann, Menschen mit Behinderung als überflüssige Last für die Gesellschaft zu definieren, hat der NS gezeigt. Menschen, die ohnehin benachteiligt sind, denen Teilhabe und Sichtbarkeit verwehrt werden und die keine starke Lobby haben, sind besonders angreifbar – und es ist kein Zufall, dass sie immer zu den ersten Opfern menschenverachtender Politik gehören.

 

Ausblick

Inklusion bedeutet, dass auch nicht-behinderte Menschen teilhaben können an der Vielfalt von Wissen, Kompetenzen, Kreativität, Ideen, Gedanken und Stärken von Menschen mit Behinderung. 

Inklusion bedeutet, dass Nicht-Behinderte auch Menschen mit Behinderung kennenlernen können, die sie toll finden und welche, die sie nerven. Inklusion bedeutet, dass auch Nicht-Behinderte endlich mit behinderten Menschen lachen, kämpfen oder sich streiten können.9

Dafür braucht es Räume – barrierefrei zugängliche –, in denen alle sich begegnen, austauschen und verbinden können.10

 

In diesen Zeiten und bei diesen politischen Entwicklungen werden wir einander alle brauchen - werden wir alle klugen Köpfe, guten Ideen, alle Widerständigkeit, alle Kreativität, alles Wissen, alle Frechheit, allen Mut, alles Durchhaltevermögen, allen Trotz, alle Hoffnung brauchen.

 

 

 Fußnoten aus dem Text:

  1. Der 5. Mai wurde 1992 von der Initiative Selbstbestimmt Leben (ISL) als Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ins Leben gerufen. Bereits 1993 wurde daraus ein europäischer Protesttag, an dem Menschen mit Behinderungen in ganz Europa für ihre Rechte und gegen Diskriminierung protestierten:
    https://luene-blog.de/behindertenbeirat-5-mai-2025-warum-immer-noch-protest/
  2. „Der Begriff Ally (Plural: Allies) stammt ursprünglich aus der angloamerikanischen Bürgerrechtsbewegung und bezeichnet eine Person, die sich solidarisch mit benachteiligten Gruppen zeigt und sich aktiv für deren Rechte einsetzt – auch ohne selbst direkt betroffen zu sein. Anders als der bloße Ausdruck von Sympathie oder Zustimmung erfordert Allyship aktives Handeln. Allies nutzen ihre privilegierte Position, um Barrieren abzubauen, auf Ungleichheiten aufmerksam zu machen und marginalisierte Gruppen sichtbar zu unterstützen, ob im Alltag, in sozialen Netzwerken oder in der Arbeitswelt. Dabei geht es nicht nur um Solidarität, sondern um bewusste Mitgestaltung einer inklusiven Gesellschaft.“
    https://denkfabrik-diversitaet.de/glossar/ally/
  3. „Sich für andere einsetzen und sich selbst dabei trotzdem nicht in den Mittelpunkt stellen, das ist Allyship.“
    https://dieneuenorm.de/gesellschaft/allyship-warum-wir-als-behinderte-menschen-verbuendete-brauchen/   und
    https://www.br.de/mediathek/podcast/die-neue-norm/allyship/1885202
  4. Absichtliche Unsichtbarmachung der realen Verhältnisse mit dem Erfolg, damit auch emotionale Distanz zu erzeugen, ist eine der wesentlichen Grundlagen dafür, dass sich z.B. Fleisch aus Qualhaltung und Billigkleidung aus ausbeuterischen Sweatshops immer noch problemlos verkaufen lassen.
  5. https://www.vielfalt-mediathek.de/kurz-erklaert-ableismus
  6. „Die UN-BRK ist keine Spezialkonvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, sondern sie konkretisiert die bereits anerkannten allgemeinen Menschenrechte aus anderen Menschenrechtsübereinkommen auf die Situation von Menschen mit Behinderungen.“ 
    https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/das-institut/monitoring-stelle-un-brk/die-un-brk
  7. https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Was-bedeutet-die-AfD-Politik-fuer-Menschen-mit-Behinderungen,afd3152.html
  8. https://www.lebenshilfe.de/presse/pressemeldung/ulla-schmidt-an-den-schwaechsten-der-gesellschaft-darf-auf-keinen-fall-gespart-werden?srsltid=AfmBOoofQmMSkziL5bE0Rfhwd7iPJcR69Iy_kJr5cxVITmM_W0Cy0ygp
  9. Es geht um Begegnungen auf Augenhöhe - nicht um eine „Inspiration“ durch Menschen mit Behinderung.
    https://www.zeit.de/zett/2020-02/inspiration-porn-wenn-behinderte-menschen-als-motivationskick-dienen
  10. In Hamburg wurde gerade ein Ort mit genau dieser Idee gegründet: www.allesinordnung.hamburg